Markus Brenner

„Vielleicht muss man ja lustvoll die Oberfläche feiern, um etwas über die Tiefe zu erfahren?“

Das große Flattern

Was passiert eigentlich mit unserer Identität im virtuellen Raum? Wer hat sich das nicht schon gefragt angesichts seltsamer werbetechnischer Koinzidenzen im Netz? Sie haben nach einem Pullover gesucht? Voilà, beim nächsten Besuch in der digitalen Welt wird Ihnen dazu eine bunte Auswahl an Kaufmöglichkeiten geboten – oder gleich konkrete Vorschläge gemacht: „Kunden, die das gekauft haben, interessierten sich auch für …“.

Erklären lässt sich das so: „Von Tracking spricht man, wenn das Verhalten von Personen über mehrere Internetseiten hinweg beobachtet und analysiert wird. Datensammler*innen interessieren sich zum Beispiel dafür, welche Links sie klicken, welche Produkte sie kaufen, welche Daten sie in Formulare eingeben.“ Von jeder surfenden Person wird ein „digitaler Fingerabdruck“ erstellt, der sie eindeutig identifizierbar macht. „Wir sind ins Netz gegangen“, bringt es Markus Brenner verbal und künstlerisch auf den Punkt.

Wer die begehbare Licht- und Videoinstallation des Konstanzer Künstlers im Roten Haus betritt, kann spielerisch auf dem Feld der Kunst erkunden, was im Internet passiert: Weiße Lichtlinien streifen den Körper, überziehen ihn mit einem Lichtraster, als würde er gescannt, jede Haltung, jede Körperdrehung, jede Kopfneigung. Das wabernde Gitter aus weißen Linien scheint eine „Kartografie des Körpers“, vorzunehmen. Doch Brenner macht auch klar, dass die Datenfülle im Netz ebenso auf Freiwilligkeit basiert, auf der Lust an der Selbstinszenierung. Posen, posten, prahlen – eine Spiegelwand in Brenners Installation ruft dazu auf, sich offenherzig selbst in Szene zu setzen und einen Probelauf für die eigene digitale Identität zu absolvieren.

Die Transformation zur faszinierenden Figur der virtuellen Welt kann dann im Nebenraum vollzogen werden. Aufgeregtes Flügelschlagen ist dort zu hören. Oder ist es Atmen? Dann wird es ruhig. Später erklingen sanfte Geräusche eines Nachmittags auf einer Sommerwiese. Ein Schmetterling fliegt. Er ist riesig. Alles ist bunt im Raum. Die Verwandlung in einen Avatar kann beginnen.

Strahlend blau beginnen die eigenen Augen zu leuchten. Oder sind es gar nicht die Augen, die leuchten, sondern die Flügel des großen Schmetterlings, deren Farbspiel als Projektion den eigenen Körper überzieht? In die Idylle mischt sich plötzlich die Atmosphäre von Angst, der Schmetterling beginnt, panisch zu flattern. Will er wegfliegen? Hängt er fest? Ist er gefangen in einem Netz? Im virtuellen Netz?

Das Angebot der digitalen Welt ist verlockend, die Auswahl riesig, die Möglichkeiten unendlich – und doch konsumiert, kontrolliert, politisiert und manipuliert das Internet das, was wir als unser intimstes Eigentum betrachten: unsere Persönlichkeit, unsere Identität. Und wir spielen lustvoll mit, geben unsere Geheimnisse den virtuellen Sphären preis, öffnen uns den Begierden der digitalen Welt, posieren mit einem „Großen Flattern“ – so der Titel von Brenners Videoinstallation – in unseren schillerndsten Farben.

Wir mutieren zu künstlichen Konstrukten im virtuellen Raum. Panisch schlägt der Schmetterling mit den Flügeln. Dann, plötzlich, entspannt sich die Atmosphäre wieder. Die Idylle des sonnigen Sommertages kehrt zurück und wir vergessen, was wir gesehen haben. Klick. Schon ist die Seite gewechselt in der schönen neuen Welt.

Heike Frommer
Leiterin Galerie Bodenseekreis